Slow Living und die neue Teekultur


Slow Living und die neue Teekultur

Es ist kaum zu übersehen – und egal ob Party-Small-Talk oder Fachgespräch – alle Welt diskutiert den aktuellen Teetrend, der mit Werten wie handmade, handcrafted, authentic, real, artisanal und ähnlichem aufwartet. In Zeiten, in denen wir Time-Outs innerhalb der Routinen des Alltags suchen, wird Tee zum neuen Stargetränk. Teegenuss bietet Raum für Kreativität, längere Pausen und hilft Blockaden vorzubeugen.

Wir wollen mehr über den Trend zum Tee, Innovationen im Markt und ganz allgemein über die neue Slow-Living-Genusskultur erfahren und freuen uns, den erfahrenen Teaisten und Soziologen René Salomon als Protagonist für unsere Slow Living Conference 2015 gewonnen zu haben. Wie man eigentlich Teaist wird und ob es einen Tee gibt, der beim Fokussieren hilft, finden Sie im Interview.

Innerhalb der Slow Food Bewegung schien Tee bisher noch keine so große bzw. sichtbare Rolle zu spielen. Jetzt wo Menschen jedoch nach Entschleunigung, Entspannung und Re-Balancing im Alltag suchen, wird Tee zum In-Getränk. Woher kommt Ihrer Meinung nach diese neue Sehnsucht nach Tee?

Dieser neue Fokus auf Tee scheint mir eine Folge bestimmter Bewegungen zu sein. In den letzten Jahren ist ein sukzessiv steigendes Interesse an dem Thema der ›Optimierung des Selbst‹ zu beobachten. In diesem Kontext spielt neben Sport, Kleidung, Bodybuilding, Kosmetik und der physischen Manipulation des Körpers vor allem die Ernährung eine gewichtige Rolle. Es zeigt sich, wie teils ganze Heilsversprechen und politische, gesundheitliche sowie ökologische Hoffnungen und Ideale mit bestimmten Formen der Ernährung verbunden werden, wie zum Beispiel im Veganismus oder beim Konsum von ›Superfoods‹ und grünen Smoothies. Dies ist auch der Ausdruck eines Wandels der üblichen Trends zur Funktionalisierung von Ernährung.

Wurde Ernährung zuvor eher dahingehend funktionalisiert, dass sie schnell, ohne Aufwand und möglichst nebenher, ›erledigt‹ werden konnte, wird sie heute dahingehend funktionalisiert, dass sie heilend, entspannend, präventiv, ökologisch, politisch u.ä. sein soll – kurzum, sie wird zu einem mächtigen Instrument des Ausdrucks und der Optimierung der eigenen Persönlichkeit. Und hier zeigt sich Tee als besonders geeignet, da die mit Tee verbundenen Erwartungen den Vorteil haben, dass sie sehr leicht mit Plausibilität ausgestattet werden können, indem sie aus zwei wichtigen Bereichen schöpfen. Erstens aus den jahrtausend alten Traditionen der Teekulturen, und zweitens aus der Nutzung eines modernen Abkömmlings der Alchemie – nämlich der Lebensmittelchemie. Tee bietet also nicht nur eine ganze Bandbreite uralter kultureller Bilder, die positiv besetzt sind (bspw. aus dem Buddhismus), sondern er kann auch in einer wissenschaftlich wirkenden Sprache vermarktet werden, bspw. indem darüber gesprochen wird, welche Antioxidantien, Aminosäuren und sonstige chemische Verbindungen enthalten sind. Tee bietet hier also synchron die Möglichkeit aus zwei sonst eher getrennten Sphären zu schöpfen – uralte und teils religiöse Bilder sowie augenscheinlich modernste Wissenschaft. Dies spricht Konsumenten offensichtlich sehr an.

Wie unterscheiden sich die neuen Teekonsumenten von jenen die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten Tee genießen?

Während die deutsche Teekultur Tee weitgehend als Alltagsgetränk betrachtete – dem zum Teil sogar ein eher negativ behafteter Nimbus umgab (Teetrinken wurde mit einem in der Allgemeinheit eher belächeltem Bild von Ökos in Verbindung gebracht) – ist Tee bei den neuen Teetrinkern eher ein funktionales Mittel und der Ausdruck eines bestimmten Habitus. Die neuen Teetrinker trinken nicht einfach irgendeinen Tee, sondern der Tee erfüllt eine Funktion – von Detox, über Beruhigung hin zum Luxusgenuss, der auch der Ausdruck eines bestimmtes ökonomischen und kulturellen Kapitals ist. Wer einen Gyokuro für 150 € pro 50g trinkt, zeigt damit nicht nur einen bestimmten Geschmack und scheinbar ein Wissen über diesen aufwendig produzierten Schattentee, sondern er signalisiert auch, dass er es sich leisten kann. Überspitzt könnte man aus der Perspektive der Soziologie formulieren: „Sage mir welchen Tee du trinkst, und ich sage dir wer du gerne sein willst“. 

Slow Living wird für immer mehr Menschen zur bevorzugten Lebensweise, weil sie uns mehr Bewusstsein und Entspannung verschaffen kann. Sie, Herr Salomon, als Experte für Teekultur, würden wir gerne fragen, in wie weit uns der Genuss von Tee tatsächlich entspannen kann?

In der Formulierung der Frage liegt auch schon die Antwort. Es geht um den Genussakt selber. Die Praxis des Teetrinkens ist eine von vielen möglichen Praktiken der Entschleunigung und der Entspannung. Hier bieten vor allem die asiatischen Teekulturen ein großes Repertoire an Praktiken, die leicht und effektiv in unseren Alltag eingebaut werden können und die das Erschaffen von Entspannungs- und Entschleunigungsinseln ermöglichen. Der Tee selber spielt dabei aber eher die Rolle einer Requisite – zwar einer wichtigen, aber nur einer von mehreren. Viel relevanter ist die jeweilige Praktik des Teetrinkens.

Hat der steigende Teeabsatz in Deutschland etwas mit dem gestiegenen Gesundheitsbewusstsein zu tun?

Ich glaube, dass hier verschiedenen Aspekte eine Rolle spielen. Der Gesundheitstrend ist dabei sicherlich wichtig, aber wie eben schon erwähnt, spielt das Image, welches mittlerweile mit bestimmten natürlichen Substanzen in Verbindung gebracht wird, ebenfalls eine immense Rolle. Es ist eine Melange aus verschiedenen Beweggründen, die sich teilweise auch überschneiden. Dem einen geht es darum gesund oder gesünder zu leben, dem anderen eher um ein Lebensgefühl, einen Trend oder ein Image. Gesundheitsbewusst zu sein, ist dabei aber auch immer Bestandteil des eigenen Imagemanagements, also des Eindrucks den man anderen und/oder sich selber gegenüber hervorrufen möchte. Somit sind diese beiden Aspekte nicht immer trennscharf voneinander zu unterscheiden. Dennoch ist etwas zu beobachten, dass darauf hinweist, dass von bestimmten Protagonisten ein bestimmtes Image bewusst genutzt wird, ohne dass es dabei konkret um die Inhalte geht, die damit üblicherweise verbunden werden – Stichwort ›Greenwashing‹ . Dies wird schnell deutlich, wenn man momentan aufstrebende Firmen in der Kosmetikbranche betrachtet. Da wird teils die gesamte Corporate Identity in ihrem Kern so angelegt, dass sie an gewohnte Rezeptionsmuster der Naturkosmetik, des artisan lifestyle und ähnlichen andockt, obwohl es sich nicht um echte Naturkosmetik handelt. Dies wird kombiniert mit einem Image das sonst eher mit klassischer High-End Kosmetik in Verbindung gebracht wird – was sich auch im Preis äußert. Das gleiche Prinzip funktioniert auch beim Tee. 

Welchen Tee würden Sie empfehlen, wenn ich mich besonders fokussieren, konzentrieren müsste?

Das ist eine Frage des Geschmacks und der persönlichen Konstitution. Da bleibt einem nur das Ausprobieren. Zudem hängt es von dem aktuellen körperlichen und geistigen Befinden ab. Bin ich gerade besonders müde oder eher aufgekratzt? Die Idee, dass Tee je nach chemischer Zusammensetzung funktional getrunken werden kann, ist eine, die wissenschaftlich nicht wirklich bestätigt werden kann. Nicht nur, dass es kaum Studien dazu gibt, die den heutigen wissenschaftlichen Standards entsprechen, sondern die Studien die es gibt, beziehen sich meist auf isolierte Einzelstoffe die in vitro oder in Tierversuchen unter Extrembedingungen getestet wurden. Solche Ergebnisse sind aber nicht auf den Menschen übertragbar. Zudem ist Tee ein Naturprodukt, dessen chemische Zusammensetzung immens­ schwanken kann – abhängig von Wetter, Bodenbeschaffenheit, Regenmenge, Sonneneinstrahlung aber auch von Sorte, Form der Verarbeitung usw.

Ein weiterer meist übersehender Aspekt ist der, dass sich im Tee tausende von Verbindungen und Stoffen finden und man viele davon noch gar nicht genau in ihrer Funktion kennt. Es lässt sich auch nicht sagen, wie das Zusammenspiel dieser Stoffe ist und welche Wechselwirkungen sie entfalten. Hinzu kommt die jeweils differente Konstitution der Individuen – es gibt Personen die extrem, und andere die kaum auf das Koffein im Tee reagieren. Nichtsdestotrotz können wir natürlich auf jahrtausende alte Erfahrungen mit Tee zurückgreifen. Aber grade als Soziologe muss ich davor warnen, diese Erfahrungen als Beweis für irgendeine Wirkung zu betrachten. Denn erstens sind solche Überlieferungen immer das Ergebnis von Aushandlungsprozessen – hier setzt sich derjenige durch, der die Macht der Repräsentation hat – und zweitens zeigt sich hier eine soziologische Binsenweisheit bestätigt: Dinge die für Real gehalten werden, haben reale Folgen. Somit hat die Wirkung von Tee meist mit der Erwartung an diese Wirkung zu tun.

Wo entdecken Sie persönlich neue Teesorten?

Es gibt eine recht große Tee-Community die mittlerweile stark übers Internet verknüpft ist – dadurch ist es viel leichter geworden immer auf dem neusten Stand zu sein und weltweite Entwicklungen mit zu bekommen. Zudem überraschen mich Händler und Freunde natürlich immer wieder mal mit ausgezeichneten Tees.

Welche Trends sehen Sie im Teemarkt? Glauben Sie, dass wir auch Cocktails aus Tee und weitere kreative Getränke im Markt sehen werden?

Das gibt es schon alles – ich habe kürzlich erst mit einer Brauerei gesprochen, die damit experimentiert Bier mit Teeauszügen zu brauen. Tee wird zur Zeit in allem möglichem verwendet – man findet Tee in der Kosmetik, in Backwaren, in Eiscreme, als Zusatz für Smoothies, im Joghurt und in Getränken jeglicher Art. Auch Starbucks konzentriert sich momentan immer mehr auf Tee und hat mit dem Aufkauf von Teavana für knapp 620 Millionen Dollar schon angefangen ihrem Hauptprodukt, dem Kaffe, Konkurrenz zu machen. Tee hat gute Chancen der neue Kaffe zu werden – ein ›Matcha Latte to Go‹ ist mittlerweile in Berlin keine Seltenheit mehr.

Verraten Sie uns eins, Herr Salomon. Wie wird man Teaist?

Der Begriff Teaist beschreibt meist einen Teeliebhaber oder einen Tee Connaisseur und ist dem 1906 erschienenen Buch ›The Book of Tea‹ von Kakuzō Okakura entlehnt. Okakura beschreibt in diesem Buch eine bestimmte japanische Lebensanschauung, die er als Teeismus bezeichnet und mit der er den westlichen Lesern die fernöstliche Kultur näher zu bringen versucht. Es geht im Teeismus nicht nur um Ästhetik, sondern um eine ganze Auffassung von Mensch und Natur – eine Zeremonie, die lehrt, Einfachheit, Stille und den Moment vollkommen zu erleben und dies im Idealfall nach und nach auch auf andere Lebensbereiche zu übertragen. Der Weg dorthin begann für mich recht früh. Ich bin schon als Jugendlicher zum Teetrinker geworden. Mein Bruder hat regelmäßig in Indien für Hilfsprojekte gearbeitet und von dort immer Tee mitgebracht. So begann meine Vorliebe und Faszination für Tee und vertiefte sich über die Jahre hinweg immer weiter.

Gerne würden wir noch mehr über Sie erzählen. Vielleicht können Sie ja kurz etwas zu Ihrem Werdegang etc. sagen. Das wäre prima.

Ich habe nach einer kaufmännischen und einer pflegerischen Ausbildung jahrelang im sozialen Bereich gearbeitet. Dann entschied ich mich zu einem Studium, wobei mich meine bisher größte Leidenschaft gepackt hat – die  Soziologie. Nach Jahren in der Praxis und Forschung habe ich mich auf die Lehre Bildungsarbeit konzentriert und  beende momentan meine Promotion in Soziologie. Dabei ist mein Schwerpunkt die Soziologie sozialer Praktiken. Und dort schließt sich auch der Kreis zum Tee und zur Entschleunigung wieder – denn relevant sind die Praktiken der Entschleunigung – nicht so sehr der Tee als solcher.